Vom Daß der Welt – Wittgenstein und Heidegger zu den Formen menschlichen Seins
10. Mai 2016
Zuerst erschienen in: EIGENSINN – die philosophiestudentische Zeitung, Ausgabe #4 vom März 2005
von Tobias Prüwer
Vom Daß der Welt – Wittgenstein und Heidegger zu den Formen menschlichen Seins
Ich kann mir wohl denken, was Heidegger mit Sein und Angst meint. Der Mensch hat den Trieb gegen die Grenzen der Sprache anzurennen. Denken Sie z. B. an das Erstaunen, daß etwas existiert. Das Erstaunen kann nicht in Form einer Frage ausgedrückt werden, und es gibt auch keine Antwort. Alles was wir sagen mögen, kann apriori nur Unsinn sein. (Wittgenstein: Zu Heidegger; 68)
Seit Platon und Aristoteles gilt als Quelle der Philosophie das Staunen darüber, daß überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, über „das Wunder aller Wunder: daß Seiendes ist.“ (WM 47) Schien dieses Wundernehmen aus dem Gesichtsfeld der traditionellen Philosophie gerückt zu sein, so gehen Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein zurück und nehmen abermals beim Staunen Anfang. Einsehend, daß sinnvolles Fragen nach dem Daß-Sein der Welt nicht möglich und die Seinsfundierung abgänglich ist, verbleiben beide im Beschreiben der conditio humana, den Formen unseres Seins.
Die Frage um Früh- und Spätwerk vermeidend, werden grundlegende Züge als sich gleich bleibend unterstellt, um zwei wirkungsmächtige Philosophen des Zwanzigsten Jahrhunderts in der Gemeinsamkeit ihres Denkens zu skizzieren. Die Parallelen im Denken beider sind sicher nicht augenscheinlich. Wurde Wittgenstein besonders durch die (anglophone) analytische Philosophie vereinnahmt, die in Heidegger ärgstes Gegenbild sah, so war letzterer insbesondere für Existenzialismus und Hermeneutik impulsgebend. Ist Heideggers Fundamentalontologie (später Seinsgeschichte) ein systematischer Entwurf, so übt sich Wittgenstein durch aphoristisch anmutende Gedankenspiele in Sprachkritik. Die Ähnlichkeit beider Positionen zeigt sich in der doppelten kritische Stoßrichtung beider Philosophen gegen idealistische Metaphysik einerseits und psychologisierenden Materialismus auf der anderen Seite. Wie sich noch zeigen wird, werden diese beiden Ansätze dem Vorwurf der Verdinglichung ausgesetzt. Weder Heidegger noch Wittgenstein versuchen sich in der Konstruktion. Beide verbleiben in der Deskription, in der methodischen Absage an Versuche der philosophischen Erklärung, deren Möglichkeit nur Chimäre ist. Der deskriptive Ansatz weist die Beziehung zur Transzendentalphilosophie auf; dieser beschreibt Bedingungen der Möglichkeit von Phänomenen existentieller, jener von sprachlicher Natur. Heidegger wendet die Frage nach dem Sinn von Sein in das Fragen nach den Möglichkeitsbedingungen eines Wesens, das sich jene stellt. Indem die Frage auf den Fragenden zurückgeworfen wird, beschreibt er die Vorraussetzungen täglichen Handelns und Verstehens, der Möglichkeit eines Verhaltens zu sich und der Rede darüber. Ebenso führen die Betrachtungen Wittgensteins in die alltägliche Lebenspraxis. Das Terrain der Idealsprachen verlassend, verortet er seine Analyse in den situativen Sprachgebrauch, dorthin wo sich das Phänomen Sprache zeigt und stattfindet. So nähern sich beide Philosophen von verschiedenen Seiten der philosophisch-anthropologischen Frage nach der conditio humana, nach den transzendentalen Formen menschlichen Seins. Was für Heidegger die Existentiale sind, bezeichnet Wittgenstein als Lebensformen. Die Probleme der traditionellen Philosophie hoben an, weil die Frage nach menschlicher Seinsweise und Sprachpraxis gar nicht oder schief gestellt und damit die Antwort verstellt worden ist. Diese Antwort aber liegt offen vor uns. Für Heidegger wohnt uns ein vorontologisches Seinsverständnis inne, wir verstehen immer schon, was Sein bedeutet, während wir es für Wittgenstein immer schon verstehen, an Sprachspielen teilzunehmen. Die alltäglichen Phänomene sind uns, gerade weil sie alltäglich und immer schon da sind, verborgen. (SZ 36 & PU 129) So wird das ontisch Allbekannte ontologisch als Fremdes gesehen. Wittgenstein und Heidegger beschreiben jeder auf seine Weise einen Pfad, der zum beschreibenden Freilegen der Möglichkeitsbedingungen von Bedeutung führt, dem Aufzeigen der Grenzen menschlichen Seins. Ist menschliches Dasein Selbst- und Weltbezug, so gehören zur Form unseres Seins die gleichursprünglichen Phänomene Welt und sprachliche Verfaßtheit.
Welt ist nach diesem Verständnis kein Gegenstand der Erfahrung, sondern transzendentale Lebensform. Wir haben immer schon eine Welt, sind immer schon in der Welt. Welt ist kein Container, kein materieller Raum, in dem wir uns irgendwie aufhalten. Dieser Gefangenschaft im cartesianischen Bild der Subjekt-Objekt-Unterscheidung gilt es zu entkommen, denn indem auch die cogitans als Substanz vorgestellt wurde, ward der Blick verstellt. Dem Körper stand nun die Entität des Geistes inkommensurabel gegenüber. Auf diese dualistische Verdopplung folgte die Reduktion eines materialistischen Monismus. Der Mensch wurde zur (biologischen) Maschine. Beiden Vorstellungen wohnt die Vergegenständlichung menschlichen Seins, die Verdinglichung unseres Selbstverständnisses, inne. Deshalb üben Wittgenstein und Heidegger Kritik an diesen Modellen der Beziehung zwischen Mensch und Natur und verweisen auf den kategorialen Unterschied zwischen der Rede vom Menschen und gegenständlichen Prädikationen. Sie gehen hinter diese Vorstellung zurück, indem sie die Umkehr des traditionellen Vorrangs des Unbeteiligten vollziehen. Denn Menschen sind immer schon in der Welt, in Geschehnissen und Lagen, involviert, beschäftigt und eingebunden in den praktischen Lebensvollzug. Das Phänomen der Welt ist Möglichkeitsbedingung dieser „Situationalität“ (Rentsch; 14). Daher muß Welt holistisch verstanden werden. Sie ist ein Ganzes, nicht zusammengesetzt aus Einzelfakten, denn sie ist der Verstehenshorizont vor dem Einzelaspekte erst verstehbar sind. Die Welt wird uns nicht vermittelt, sie ist ein Konstitutivum für unser Dasein; wir sind unvermittelt da. Der Mensch ist immer schon eingebettet in ein Bedeutungsganzes, in ein Weltbild und Bezugssystem (ÜG §83, 93), einen Verweisungszusammenhang (SZ 82).
Gleichursprünglich zum „Verstehensmedium“ (Stegmüller; 148) Welt ist die Sprachlichkeit. Denn Menschsein findet Vollzug in Lebenswelt und Sprachwelt, und unser Selbstverhältnis ist sprachlich verfaßt genauso wie sich der Sinn von Welt in der Sprache artikuliert. So konstituieren Welt und Sprache die Grenzen unseres Verstehens. Ein Hintergehen beider Phänomene ist uns unmöglich, sind sie immer schon Vorraussetzung jeglichen Verstehens. Nur scheinbar ist der Rückzug aus der Welt möglich. Von alltäglicher Praxis distanziert ist die theoretische Perspektive einnehmbar. Doch ist auch diese nicht frei von Situationalität. So ist es nur scheinbare Möglichkeit, wie Descartes den Wachsball zwischen den Fingern zu rollen und in der Draufschau die Welt nach Subjekten und Objekten, Innen und Außen, zu sezieren. Dieser Unterscheidung wird der Vorrang gegeben, weil übersehen wird, daß sie nur Derivat eines ursprünglicheren Phänomens ist. Denn der Zweifel an der Existenz einer Außenwelt setzt Welt schon voraus. Unsere vorgängige Erschlossenheit oder Lebensform, das Daß wir immer schon in der Welt sind und darum verstehen, ist Voraussetzung für alles Fragen nach dem Menschen, auch nach dem Verhältnis von Mensch und Natur. Dahinter kann nicht zurückgegangen werden und darum muß auch ein naturalistischer Reduktionismus die Situationalität immer mitbedenken, welche er nicht in eigene Termini fassen kann. Wir sind in der Welt und darum denken und verstehen wir. Sonach greifen jene Bedeutungstheorien zu kurz, welche auf Grundlage der Subjekt-Objekt-Differenz die mysteriösen sinnstiftenden Vorgänge zwischen mentalen Zuständen und materiellen Gegenständen erklären. Wittgenstein und Heidegger weisen dies Bild mentaler Repräsentation der Wirklichkeit zurück, denn Sinn läßt sich nicht über Objekte stülpen. Zu Tatsachen Bedeutung zu addieren, konstituiert keinen, macht keinen Sinn. Es bedarf immer schon eines Bewandtniskontextes, vor dessen Hintergrund es erst möglich ist Urteile zu fällen. Dieser muß bereits verstanden sein, ehe etwas als etwas erfaßt werden kann. „Alle Auslegung, die Verständnis beistellen soll, muß schon das Auszulegende verstanden haben.“ (SZ 152) Um an Heidegger anzuknüpfen: Eine Kombination aus Holz und Eisen trägt seine Bedeutung als Hammer nicht in sich, sondern erlangt diese im Zusammenhang mit Nagel, Brett und Zweck des Heimwerkelns. Und auch Holz und Eisen bekommen erst Bedeutung vor dem Hintergrund der Materialkunde. Ist die Frage nach dem Daß der Welt nicht sinnvoll, so trifft dies gleichermaßen zu für den Zweifel an der Existenz anderer Geister. Wie die Skeptikerin an der externen Welt die eigene Situationalität vergißt, so ersteigt solch solipsistische Skepsis vor dem sinnkonstitutiven Hintergrund sprachlicher Verfaßtheit und zieht dadurch die eigenen Fundamente in Zweifel. Sprache ist ein soziales Phänomen, menschliches Sein ist Mitsein (Heidegger), eine Privatsprache nach Wittgenstein unmöglich. Menschsein findet sonach statt in einer Welt, die sprachlich verfaßtes Bezugssystem ist und durch gemeinsame Praxen erworben wird. Ist (Welt)-Verständnis kontextuell, dann müssen kulturelle Organisation und Sinngebung einer Gesellschaft Basis und Verständnishorizont für die Frage nach dem Menschen sein. Aus der Mitte täglicher Praxis heraus liegt der gelingende Ansatz in der Beschreibung jener Bedingungen, welche die Möglichkeit menschlicher Praxen eröffnen und beschließen. Sprachspiele sind an Lebensformen gebunden (Wittgenstein), Seinsweisen an Existentiale (Heidegger). Weil sie ihnen zugrunde liegen, sind diese Formen des menschlichen Lebens unhintergehbar. Sie sind Möglichkeitsbedingungen unseres Seins ohne selbst fundamentiert werden zu können. Eine Letztbegründung, ein Tieferes hinter dem Leben, gibt es nicht. „Es gibt kein Draußen; draußen fehlt die Lebensluft.“ (PU 103) Wir kommen aus den Grenzen von Leben und Sprache nicht heraus, wir handeln und fällen Unterscheidungen vor dem Hintergrund eines Gesichtskreises, der als Ganzes nicht zu rechtfertigen oder „gut begründet“ ist. Ein jeglicher Begründungsdrang stößt irgendwann an sein Ende, aber dieses “ist nicht die unbegründete Voraussetzung, sondern die unbegründete Handlungsweise.“ (ÜG § 110) Eine transzendente Sicherheit gibt es nicht. Dieser Unverfügbarkeit von Sinn des Daß sind wir ausgesetzt, menschliches Sein ist grundlos und abgründig. Der Mensch hat, um es mit Stirner zu sagen, sein’ Sach’ auf Nichts gestellt.
Menschliches Leben ist kontingent, endlich, kontextualisiert. Dasein vollzieht sich in einer Welt intersubjektiver Bedeutungen und Sprache ist Trägerin dieser. Die Hervorhebung der sozialen Kategorie durch Wittgenstein und Heidegger trägt diesem Rechnung. Das darf allerdings nicht gedeutet werden als empirischer Pragmatismus oder die Reduktion philosophischen Fragens auf die Soziologie. Denn die Rede führt ausschließlich über die Möglichkeitsbedingungen menschlichen Seins, deren ontischen (tatsächlichen) Manifestationen sich die Einzelwissenschaften widmen. Sogleich zeigt das Apriori der Situationalität einen wissenschaftskritischen Zug. Entgegen der selbstproklamierten Distanz ist auch die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise eingebettet in praktische Lebensbezüge und ist somit nur ein Zugang und nicht der privilegierte zur Welt; lebensleitender Status kommt ihr nicht zu. Die eindimensionale Erzählung vom Menschen kann zugunsten eines Perspektivismus aufgeben werden, ohne dem Vorwurf des Relativismus zu erliegen. Ferner muß der Grundlosigkeit des Daseins keine Verzweiflung folgen, denn die Unfundiertheit läßt sich auch als das Offenstehen für den Selbstentwurf lesen. Ist Philosophie die Infragestellung des bislang Selbstverständlichen, so wäre es für sie an der Zeit sein, den Drang nach Letztbegründung zu hintergehen und zu erkennen, daß sie wie jegliche Praktiken der Lebenspraxis erwächst. So wird Denken zur Therapie gegen das Verstelltsein unseres Verständnishorizonts durch irrtümliche Bilder objektivierter Rede. Unsere Einbettung in das Gewebe von Sprache, Welt und Sein rückt näher ins Gesichtsfeld und das Staunen vor der Welt ließe sich erneut affirmieren. Denn: „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist.“ (TLP 6.44)
Literatur
Apel, Karl-Otto: Transformation der Philosophie 1 – Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik; Frankfurt / Main 1973. ‘Wittgenstein and Heidegger’; in: Christopher Macann (hrg.): Martin Heidegger – Critical Assessments; Vol. III; London & New York 1992; S. 341-374.
Dreyfus, Hubert L.: Being-in-the-world; Cambridge / Massachusetts & London 61995.
Guignon, Charles:‘Philosophy after Wittgenstein and Heidegger’; in: Philosophy and Phenomenological Research; Vol. 1; # 4; June 1990.
Heidegger, Martin: Sein und Zeit; Tübingen 182001. [SZ] Was ist Metaphysik; Frankfurt 111975. [WM]
Rentsch, Thomas: Wittgenstein und Heidegger – Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen Philosophischer Anthropologie; Stuttgart 1985.
Stegmüller, Wolfgang: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie; Stuttgart 41968.
Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosopicus; in: Schriften 1; Frankfurt / Main 1969. [TLP] Philosophische Untersuchungen; in: Schriften 1; Frankfurt / Main 1969. [PU] ‘Zu Heidegger’; in: Friedrich Waismann: Wittgenstein und der Wiener Kreis; Frankfurt 1967; S. 68f. Über Gewißheit; Frankfurt / Main 1971. [ÜG]